Im Interview mit dem christlichen Magazin „pro“ spricht Thomas Schirrmacher über die Gefahr von Pornografie und die ausufernde Sexualisierung.

pro: Erotische Darstellungen hat es in der Geschichte in allen Kulturen gegeben, längst sind jedoch alle Grenzen gefallen, alles scheint möglich. Im Fernsehen laufen immer mehr Sexfilme und über das Internet werden auch perverseste Neigungen befriedigt. Woher kommt die enorme, beinahe grenzenlose Nachfrage nach der Darstellung von Sex?

Schirrmacher: Das hat damit zu tun, dass zum einen die sexuelle Stimulanz durch Pornografie abstumpft, so dass immer härtere Bilder und Töne her müssen und zum anderen damit, dass intensiver Pornografiegebrauch häufig zur Sucht wird – hier liegt auch die eigentliche Verdienstquelle. Wissenschaftler haben 8,5 Prozent der amerikanischen Internetbenutzer als sexsüchtig eingestuft, da sie mehr als 11 Stunden pro Woche pornografisches Material im Internet studieren und nicht in der Lage sind, länger als 24 Stunden darauf zu verzichten. Kornelius Roth, der frühere deutsche Sexsuchtexperte, schätzt die Zahl der hochgradig Sex- und Pornografieabhängigen in Deutschland auf 500.000.

pro: Das alles hat Auswirkungen auch auf den Alltag von Jugendlichen. Rapper wie „Frauenarzt“ oder „Sido“ singen von brutalen Vergewaltigungen, Jugendliche filmen Vergewaltigungen und schicken sie an Freunde, andere sehen gar Gruppenvergewaltigung als Freizeitsport an. Tabus scheint es keine mehr zu geben. Wie sehr schadet die Pornografisierung der Gesellschaft?

Schirrmacher: Pornografie ist letztlich ein Angriff auf die Würde des Menschen und ebenso ein Wegbereiter für Verbrechen wie Rassenwahn. Die Geschichte hat gezeigt, dass rassistische Aufrufe zu rassistischen Handlungen führen. Zu Recht sind sie deshalb hierzulande verboten. Und Vergewaltigungsdarstellungen und -gesänge führen zu Vergewaltigungen. Die Wirtschaft würde doch nicht Milliarden in erotische Werbung investieren, wenn das nicht unser Denken und Handeln beeinflussen würde! Das verbrecherische Boomen pornografischer Pädophilie ist ein gutes Beispiel dafür.

Der führende amerikanische Pornografieforscher, der Psychologieprofessor Dolf Zillmann, schreibt im 2004 erschienenen deutschen „Lehrbuch der Medienpsychologie“: „Die intensive Nutzung pornografischer Medienangebote steigert die selbst zugegebene Vergewaltigungsbereitschaft von Männern. Sowohl zwangsausübende als auch nicht zwangsausübende sexuelle Darstellungen haben diese Wirkung“. Und: „Nach der intensiven Nutzung von Pornografie hielten Männer und unerwarteterweise auch Frauen Vergewaltigung für ein weniger schweres Vergehen.“

pro: Die Meinungsmacher in Politik und Medien müssten sich ob derartiger Befunde doch im klaren darüber sein, was eine ausufernde Sexualisierung auslöst – und davor warnen?

Schirrmacher: Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben es hier mit massiven Tabus zu tun! Die alten Tabus beinhalteten, dass über Sex nicht geredet wurde und schon gar nicht in der Öffentlichkeit praktiziert wird. Diese Tabus sind weitgehend gefallen. Ich sitze im bürgerlichen Bonn etwa im Bus regelmäßig Schülern unter 14 Jahren gegenüber, die sich in einer extremen Weise öffentlich küssen, die Kleidung hochschieben, sich an den Geschlechtsteilen streicheln, als wären sie völlig allein. Rapper – Sie haben das angedeutet – singen von der blutigen Vergewaltigung kleiner Mädchen und im Internet ist nichts, aber auch gar nichts mehr tabu. Stattdessen ist aber auch ein ebenso massives Tabu an die Stelle getreten, nämlich das Verbot, über die Folgen des sexuellen Massenkonsums und des Pornografiezwangs zu berichten und zu sprechen.

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